Rückblende 9. November

Mauerfall

Gestern waren wir mit den Kindern an der Mauer. Die neue Mauer besteht aus 1.000 Styropor-Steinen, erstreckte sich über 1,5 Kilometer entlang des ehemaligen Mauerstreifens rund um das Brandenburger Tor und wird heute am 20. Jahrestag des Mauerfalls medial wirksam beim „Fest der Freiheit“ umstürzen.

Wir suchten und fanden „unseren“ Mauerstein, und plötzlich waren wir mittendrin. Die Fragen meiner Kinder, die nie eine Mauer kannten, die mit den Begriffen Ost und West nur noch Himmelsrichtungen verbinden, die weder mit dem Trabant den typischen Ostgeruch noch mit dem VoPo ein flaues Gefühl oder mit dem Broiler ein Grillhuhn verbinden, diese Fragen brachten uns zurück in die Vergangenheit.

Was war los in meinem Leben rund um die Ereignisse des 9. November 1989? Der Anruf, dass wenige Kilometer von mir entfernt der Teufel los war, erreichte mich – im Bett. Warum ich schon um 22:00 im Bett liege statt wie jeder anständige Student am Tag im Hörsaal zu schlafen und nachts um die Ecken zu ziehen – ich weiß es nicht. Ich erinnere mich, dass ich es auch nicht so richtig fassen konnte. Für den West-Berliner, aufgewachsen mit Mauer, Grenzposten, 100 km/h Limit in der Zone, Braunkohlegeruch bei Ostwind, schikanösen Grenzkontrollen und Zwangsumtausch bei den rituellen Familien-Ausflügen in den Osten, war der Fall Mauerfall undenkbar. Handy gabs noch nicht, Internet auch nicht, aber damals war ich noch Fernsehbesitzer, also Glotze an und die Bestätigung geholt: Es stimmte.

Von da an gab es nur noch wenig Schlaf. Einer meiner Ex-Mitstreiter in unserem Party-Imperium war schon innerhalb kürzester Zeit unter den Massen, und hielt werbewirksam den Flyer zu unserer aktuell geplanten „NDW Party“ hinter dem damaligen Bürgermeister Walter Momper in die Höhe.
MomperNDW

Unsere damals gerade aktuelle Party-Serie mit dem Revival-Motto „Neue Deutsche Welle“ bekam eine ganz ungeahnte Bedeutung. Ein Party-Flyer an diesem Abend hinter dem staatstragend deklamierenden Momper war sicher keine Großtat meines Mitstreiters an diesem Abend. Aber wir waren jung und brauchten das Geld.

Die Stimmung an diesem Abend und den nächsten Tagen kann man kaum wiedergeben. Wir fuhren mit meinem fast schrottreifen 69er Käfer Cabrio durch die Stadt, Dach auf, wildfremde Menschen auf der Hinterbank und auf dem zurückgeklappten Verdeck sitzend (tat ihm nicht gut, dem Dach), wir feierten und freuten uns mit den Menschen.

In meinem Elternhaus entstand der „runde Tisch“, weil meine Mutter die in Scharen in unserer Strasse ankommenden DDR-Bürger gleich ins Haus bat und Kaffee und Kuchen an unserem runden Tisch anbot. In jenem Haus, in dem wir uns in diesem Sommer zusammenfanden, um auch einen Mauerstein „S0065“ zu bemalen, der heute fallen wird.
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Sehr bewegend dann am 10. November die Öffnung der Glienicker Brücke. Hier endeten oft die Radtouren meiner Kindheit, immer lief ein gespenstischer Schauer über den Rücken, wenn man als Kind die Agentengeschichten hörte und nachts auf die menschenleere, in der Mitte geteilten Brücke schaute. Und jetzt fuhren die Trabis ungehindert von Potsdam nach Berlin, wir standen dort, feierten – und haben auch die eine oder andere Träne vergossen.

Gestern, als wir den Styropor-Mauersteinen folgten, an der Linie entlang, an der die Mauer stand, auf der auch ich an jenen Tagen im November 1989 vor dem Brandenburger Tor stand und es gar nicht fassen konnte, da war er wieder da, der Stolz, ein Berliner zu sein und diesen Tag in der Geschichte hautnah erlebt zu haben.

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