Kolumne zur Lotusphere 2006, Groupware Magazin, 02/2006
Bitte nicht berühren
von Alexander Kluge
Kennen Sie auch dieses Gefühl? Sie sind in einer wunderbaren Ausstellung – seien es nun Skulpturen von Auguste Rodin oder Surreales aus dem Hause Dali. Und Sie möchten die Dinge, die sie sehen, mit allen Sinnen genießen. Mit allen Sinnen? Ja, sie dürfen gerne sehen und ein wenig schnuppern, aber berühren? Nein. Anfassen verboten. Warnsignale und ein grimmig drein blickender Wärter gönnen Ihnen nicht die Freude. Was das mit der Lotusphere zu tun hat? Das erfahren Sie im Folgenden.
Der Lotusphere Besucher als solcher ist eigentlich einer, der auch gerne mal anfassen möchte. Und er möchte das Allerneueste aus erster Hand erfahren. Und natürlich möchte er es als Erster erfahren. Deshalb nimmt er den weiten Weg in unwirtliche Florida auf sich, unterzieht sich als Non-US-Citizen peinlichen Befragungen, hinterlässt Fingerabdrücke und wird digital abgelichtet. Er reist an aus winterlichen Gefilden in fast unerträgliche Sommerhitze, vor der ihn nur die völlig unterkühlten Konferenzräume retten. Und wenn er dann da ist, dann will er überrascht werden von einem Produkt-Ankündigungsfeuerwerk und nachher will er dann als Erster auch mal Hand anlegen.
Der Lotusphere Besucher als Solcher erwartet also zunächst einen ordentlichen Launch, um gleich in der Sprache zu bleiben, die einige Meilen weiter östlich im Kennedy Space Center geboren wurde und jetzt Einzug in das IBM Vokabular gefunden hat. Wie gerne erinnern wir uns noch an die unzähligen Launches des letzten Jahres: „Notes / Domino 7 Launch“, „Workplace Services Express Launch“, Workplace Collaboration Services Launch“ – all diese tollen Produkte haben auch wir in den abendländischen Software-Himmel geschossen. Womit wir beim ersten Problem dieser Lotusphere wären: Es gab nicht viel zu launchen. Und auch keinen Big Bang, wie damals – mein Gott waren wir da noch jung – zu R5 Zeiten.
Rückblick
IBM hat es im letzten Jahr einfach zu gut verstanden, gemeinsam mit uns Business Partnern das News-Feuerwerk permanent abzubrennen. Es blieb daher nicht mehr viel bahnbrechend Neues zu erzählen. Notes / Domino 7 sind letztes Jahr gelauncht worden, Notes 8 wird frühestens nächstes Jahr gestartet, Workplace erfährt einige massive, aber dennoch nur evolutionäre Veränderungen. Es mangelte an Stoff. Die Partnerschaft mit Google, Yahoo und AOL im Bereich Instant Messaging ist schön, die Wiedergeburt des Mac Client bejubelte eine kleine, dafür aber um so elitärere Gemeinde, und mit Domino „Next“ konnten viele Zuhörer noch nichts richtiges anfangen – ebensowenig wie übrigens mit dem Stargast Jason Alexander, dem leider nur den anwesenden US Amerikanern bekannten Star aus der US Kultserie „Seinfeld“. Immerhin bekannte er freimütig, dass ihm das Motto der diesjährigen Lotusphere „Future InSight“ nicht so liegt, da er persönlich seine beste Zeit hinter sich habe und nur ungern einer Zukunft ohne Haare auf dem Kopf und mit künstlichen Zähnen entgegenblickt. Damit hatte er allerdings mehr mit den Besuchern der Lotusphere gemein, als IBM häufig lieb ist – denn auch diese leben lieber in der Vergangenheit mit ihrem geliebten Lotus Notes Kacheldesktop als über so moderne Dinge wie WebSphere oder DB2 nachzudenken. Aber dazu später mehr.
Einblick
So war der eigentliche Knaller der Opening Session die längst fällige Überarbeitung von Sametime in der Version 7.5, die wirklich herausragende Neuerungen in puncto Offenheit und Leistungsfähigkeit bringen wird. „Seit wir Sametime wieder Sametime nennen, haben wir wieder daran gearbeitet“ kommentierte Lotus-Entwicklungschef Craig Heyman diesen Schritt.
Location Awarness, die Geoinformationen über die Kollegen in meiner Buddylist bereitstellt, VoIP und CTI Integration für „Click to Call“, XMPP Protokoll Unterstützung, kostenfreie Gateways zu gängigen IM Plattformen – alles da, was das Herz begehrt. Besonders gelungen erschien mir ein nettes Feature, mit dessen Hilfe man während eines Chats beliebig Screenshots von Applikationen machen kann und diese sofort dem Gesprächspartner zur Verfügung stellt. Ach, und nicht zu vergessen: Emoticons kann Sametime 7.5 dann endlich auch. Der neue Sametime Client nutzt ebenso wie der Workplace Managed Client oder auch Notes „Next“ aka „Hannover“ die quelloffene Eplipse Rich Client Plattform und kann beliebig durch Partner erweitert oder in eigene Applikationen integriert werden.
Gemessen an der Bedeutung, die Sametime finanziell für IBM und seine Partner bisher hat, war dies allerdings nicht wirklich ein Big Bang. Als wichtigste Aussage aus der Opening Session bleibt daher: Wir sind wieder da! Mit großem Selbstbewusstsein und ungewohnt aggressiven Seitenhieben gegen Microsoft brachte Mike Rhodin, der neue Lotus Chef, seine Mannen in Stellung. Und es scheint wirklich, als ob IBM es verstanden hat, dem immer wiederkehrenden Mantra aus Redmond „Notes is dead“ deutliche Worte und Taten entgegenzusetzen. Innerhalb der letzten drei Jahre hat IBM zwei Major-Releases herausgebracht, Exchange-User durften in dieser Zeit nur ungezählte Patches einspielen. Und zum ersten Mal hörte man Ed Brill, Sales-Chef für Lotus Notes/Domino, ohne wenn und aber öffentlich sagen: Wir haben seit 16 Jahren kein Security Problem bei Lotus Notes, Outlook dagegen hat ungezählte Löcher. Früher hatte man solche Aussagen eher vermieden, da gerade dies den gemeinen Hacker erst richtig reizen würde, das Gegenteil zu beweisen. Auch in dieser Beziehung gibt man sich also selbstbewusst. Und so können dann selbst IBM Mitarbeiter nur noch über die fingierten Todesmeldungen für Lotus Notes lachen. Fröhlich zog man daher zum ersten Mal seit der offiziellen Beendigung des „War of Seats“ wieder Zahlen aus der Tasche und meldete 125 Millionen User von Lotus Notes weltweit. Und konstatiert folgerichtig: „The idea of Notes is dead is dead”
Aber kommen wir zurück zum Lotusphere Besucher als Solchen. Wie bereits erwähnt, sucht er nach der News, und dann will er damit spielen. So ging es auch mir. Diverse Termine in den Labs sollten mir die Möglichkeit eröffnen, mal wirklich mit den schönen neuen Tools zu spielen. Aber so weit sollte es nicht kommen. Das schöne neue Sametime durfte ich nur als Chat Client benutzen. Aber das war in jedem Fall ein positives Erlebnis. Aufgeräumt, modern, durchdacht. Leider durfte ich nicht mal alle Knöpfe drücken, schon waren meine 30 Minuten vorbei. „Hannover“ wurde mir in kleinen Happen präsentiert. Eine halbe Stunde „contacts“, eine halbe Stunde „mail“ (aber nur die Inbox!) und dann noch ein wenig „calendar“. Das meiste davon gab es nicht einmal als Livecode (ich hätte in dieser frühen Phase wirklich auch Abstürze akzeptiert), sondern nur auf Papier oder als animierte Powerpoint Präsentation.
Durchblick
Warum? Der Beta Code ist eben noch sehr beta. Eine IBM Kollegin erzählte mir, dass sie sich noch während der Lotusphere entschlossen hätten, teile des „Hannover“ Codes nicht live über das in den Sessions präsentierte Maß hinaus zu zeigen, weil er einfach noch zu wenig stabil ist. Dennoch halten sich Gerüchte, dass einige andere IBM Kollegen bereits intensiv mit einer Notes 8.0 beta arbeiten – leider ist sie mir trotz intensiver Bemühungen und massiven Einsatz von harten Alkoholika nicht in die Hände gefallen. So hieß es also meistens: Don´t touch – bitte nicht berühren. Schade eigentlich, denn „Hannover“ ist wirklich schön anzusehen. Das Argument „Outlook ist leichter zu bedienen“ wird auf jeden Fall ab „Hannover“ nicht mehr gelten.
Vor diesem Hintergrund war es dann doch ein krönender Abschluß, länger mit dem Activity Explorer spielen zu dürfen. Der Activity Explorer war bereits auf der Lotusphere 2005 vorgestellt worden und wurde als Teil des Workplace Managed Client bereits im letzten Jahr ausgeliefert. Kern dieses wirklich genialen Ansatzes der „aktivitätenzentrierten Zusammenarbeit“ ist die These, dass wir unsere Arbeit rund um Aktivitäten wie Projekte, Vorgänge oder Angebote anordnen. Wir arbeiten gemeinsam mit Teams aus dem eigenen Unternehmen, mit Lieferanten oder externen Partnern. Es entstehen e-Mails, Projektpläne, Angebote, die thematisch zu einer oder mehreren Aktivitäten gehören. Ebenso können im Verlaufe eines Projektes wichtige Informationen in Chats oder Telefonkonferenzen entstehen. Der Activity Explorer ermöglicht es, genau diese Sicht auf die Flut der täglichen Dokumente zu erhalten und Teamarbeit optimal zu organisieren.
Ausblick
Auf der Lotusphere war nun zu sehen, wie weit sich das Konzept schon entwickelt hat. Mittlerweile können Objekte aus verschiedensten Applikationen direkt einer Aktivität zugeordnet werden. Findet man eine passende Information im Web, reicht ein Klick im Firefox, und die entsprechende Seite wird der Aktivität zugeordnet und steht allen Teammitgliedern zur Verfügung. Das gleiche gilt für Office-Applikationen oder eine ERP Integration. Wie bleiben die Teams immer up to date? Ein RSS Feed ist selbstverständlich integriert. Die Organisation der Aktivitäten kann immer noch über den Workplace Managed Client erfolgen, aber mittlerweile kann dies ebenso über ein Web Frontend erfolgen. Und was natürlich am meisten interessiert: Lotus Notes wird ebenso integriert, und zwar sowohl im 6.5 als auch im 7.x Codestream. Der Activity Explorer ist eine so runde Sache, dass IBM sogar überlegt, ihn als separates Produkt außerhalb von Notes / Workplace anzubieten. Und im „Hannover“ Client ist der Activity Explorer einer der Kernbestandteile. Darauf bin ich wirklich gespannt.
So war dann gemäß dem diesjährigen Motto „Future In Sight“ viel Zukunft zu sehen. Leider war die Zukunft meist nur zu erahnen und noch nicht lieferbar. Aber sie stimmt hoffnungsfroh. Und so wage ich die Hypothese, dass wir am selben Ort in einem Jahr tatsächlich wieder etwas erleben dürfen, was wirklich einem waschechten Launch entspricht. Natürlich mit einem Big Bang. Wie es sich gehört.
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