Kluge Kolumne zur LotusPhere 2005

Kolumne zur LotusPhere 2005, veröffentlicht im Groupware Magazin

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The Lotus Horror Picture Show
von Alexander Kluge

Erinnern Sie sich noch? Studentenzeiten. Vielleicht sogar Schulzeit. Lange, lange ist es her, dass man mit Freunden in die Rocky Horror Picture Show pilgerte. Mitternachtsvorstellung, schon gut angeheizt von einigen Bieren. Es war ja nicht unbedingt so, dass man diesem Film noch irgendwelche Geheimnisse entlocken wollte. Eigentlich konnte man jede Szene gekonnt nachsprechen und spielen. Selbst diejenigen, die der englischen Sprache nicht mächtig waren, kannten die Dialoge in und auswendig. Es ging um das kollektive Erlebnis des Berechenbaren. Es drohten keine Überraschungen, man konnte munter mitgrölen. Diejenigen, die diese Zeilen nicht nachvollziehen können, ersetzen die Rocky Horror Picture Show durch die Blues Brothers und schmeißen im Kino bitte mit Toastbrot statt mit Reis. Der Effekt ist der gleiche. Wer allerdings auch noch bei der Erwähnung der kulthaften Besuche von Stop Making Sense – natürlich auch nur in der Mitternachtsvorstellung – ahnungslos mit den Schultern zuckt, dem kann nicht geholfen werden. Der versteht die Kluge Analogie hier nicht oder ist eben einfach zu jung.

Die Lotusphere war dieses Jahr eine ähnlich kulthafte Veranstaltung, ein Ritual der Collaborative Community. Es gab keinen Big Bang, keine herausragenden Ankündigungen, die man nicht eh schon erwartet hatte. Seit nunmehr 12 Jahren pilgert man hierher, und da macht es auch nichts, dass dieses Jahr keine großen Enthüllungen warteten. Denn schon von vornherein war klar, dass der finale Release von Lotus Notes / Domino 7 dieses Jahr nicht auf der Lotusphere präsentiert werden würden. Und auch das Notes Plug-In für den Eclipse Client – letzte Jahr peinlicherweise noch als OLE Objekt auf Win32 präsentiert und damit als Fake abgetan – ist dieses Jahr nicht feierlich enthüllt, zumindest aber doch lebend vorgestellt worden. Es wird irgendwann mit einem Maintenance Release für Lotus Notes 7 ausgeliefert.

„Here´s Pluto“

Kein Aufbruch also in neue unerforschte Welten in diesem Jahr – der geneigte Leser erinnert sich noch an Captain Picard auf der Lotusphere 2004 – sondern Bewährtes und Berechenbares sowie ein genüsslicher Rückblick auf sich selbst. Die Gemeinde feiert sich und schaut zurück auf 15 Jahre Lotus Notes. Wer könnte schöner einen ironischen Blick auf diese Gemeinde werfen als der Hohepriester des britischen Humors John Cleese. „Here´s Pluto“ wurde von einschlägigen Vertretern der Fachpresse als bestes Anagram für „Lotusphere“ gewählt – auch wenn manche leidgeprüfte Notes User sicher „Pure Sloth“ bevorzugt hätten. John Cleese ist und bleibt großartig.

Und da es ja so schön ist, sich aus Anlaß der Geburtstagfeier am vertrauten Orte zu versammeln, lädt man auch gleich die Eltern und Weggefährten mit ein. Als Ray Ozzie, Gründer von Iris Associates und Vater von Lotus Notes, den Saal betrat, schlug ihm die Begeisterung entgegen. Standing Ovations für den Mann, der dieser Gemeinde einen Sinn gegeben hat, der mit Lotus Notes eine völlig neue Art von Produkt geschaffen hatte und den Begriff Groupware geprägt hat.

Geburtstagsfest mit Ray und Jim

Ray Ozzie strahlte Ruhe und Zuversicht aus. Der Mann ist entspannt. „ We were shooting from the hip“ , sagte Ozzie über die frühen Jahre der Entwicklung von Lotus Notes. “We built these forms-based things, I don’t think we understood deeply the kind of applications people would build.” Und genau so haben viele diese Software auch lieben und hassen gelernt. Kein Tool für die selbsternannten „echten“ Software-Entwickler, sondern ein Werkzeug, dass stark auf die Verbesserung von Geschäftsprozessen zielte, anarchisch und nicht abhängig von einer zentralen IT, getrieben von den Power Usern und den IT Experten des operativen Geschäfts, bestens geeignet für schwach strukturierte Informationen. Für die selbsternannten „wahren Softwareentwickler“ ein Graus.

Nur einige verwirrte Gesichter zeigten, dass sich die Gemeinde verändert hat und dass das Alter seinen Tribut fordert. Der Name Ray Ozzie erinnerte die Nachwuchsjünger eher an einen alternden Rockstar, der sein Leben auf MTV lebt, und Jim Manzie klang eher nach Whisky als nach dem legendären CEO von Lotus. Viele der diesmal wieder über 5000 Besucher waren Frischlinge, die niemals Lotus Notes auf Netware oder OS/2 gesehen haben. Diese Grünschnäbel korrigieren heute lächelnd den Dummuser, wenn er „Lotus Notes Server“ sagt, und wissen nicht, dass es eine Zeit gab, in der dies richtig war. Eine Zeit, in der es keinen Kalender und keine Navigatoren gab, in der die Formelsprache das einzige Programmierwerkzeug war und Lotus Notes einen Client, ein Entwicklungswerkzeug und die Administrationsoberfläche zugleich bezeichnete. Die Zeit des Internet begann für diese Rookies nicht mit InterNotes. Und mit Domino verbanden sie eher die Leckerein in der Weihnachtszeit – alternativ auch die Gespielin des von Klaus-Maria Brandauer verkörperten Bösewichts. Aber das ist eine andere Geschichte.

„Der die Zusammenarbeit regelt“

Womit wir beim Dauerthema Produktnamen wären. Niemand blickt mehr wirklich durch, was sich die Marketing-Experten bei IBM dabei eigentlich denken. Da ich an dieser Stelle aber bereits seit zwei Jahren die neusten Wortungetüme zitiere, halte ich mich diesmal zurück. Im Gegenteil. Ich vertrete die These: Wir werden uns daran gewöhnen. Sprechende Namen sind nun angesagt, Kunstnamen sind out. Es gab eine Zeit, da hieß man eben auch nicht John Smith wie alle anderen, sondern eben „Der mit dem Wolf tanzt“. Und damit war klar, was den Mann eigentlich ausmacht.

Wir sollten das jetzt endlich hinnehmen. Unglücklicherweise ist es gerade den prominentesten Rednern in der Openening Session nicht gelungen, flüssig zu reden ohne über die eigenen Produktnamen zu stolpern. So wurde fleissig weiter von Quickplace und Sametime gesprochen. Der Unterschied in diesem Jahr: Diesmal wurde keiner mehr rot. IBM strotzte dieses Jahr vor Selbstbewußtsein. Da schockt es selbst hartgesottene Lotusianer nicht, dass der Markenname Lotus langsam diffundiert.

Die Zeichen stehen nämlich gut, dass Lotus Notes den 18. Geburtstag erleben wird. Die Roadmap über Version 8 hinaus steht fest. Und auch wenn Lotus Notes dann als Plug-In für den Eclipse Rich Client ausgeliefert wird, so ist und bleibt es eben doch Lotus Notes. Mit 18 Jahren kann man dann ja bekanntlich heiraten, und wir werden sehen, welchen Namen die Braut des J2EE Mannes dann annehmen wird. Vielleicht werden wir noch mal kurz zucken, wenn der Markenname Lotus aus den Produktnamen verschwindet. Aber auch wenn das Ungetüm dann IBM Workplace Client for Collaboration oder gar schlimmer heißt – wir bis dahin ergrauten Jünger der ersten Stunde werden nach wie vor die alten Begriffe verwenden.

Mal im ernst: Unter Rational sollten die Entwicklungswerkzeuge subsumiert werden, Tivoli ist für die Systemadministration zuständig, DB2 für die Datenhaltung, und WebSphere für die Applikationsserver. Wer braucht da noch Lotus? Zumindest aus dieser Sicht macht es viel Sinn, den neuen IBM Workplace zu positionieren – ohne Lotus versteht sich. Spart immerhin ganze fünf Buchstaben

Daher erscheint es allerdings besonders verwunderlich, dass eine der wirklich interessanten Neuerungen dieser Lotusphere als Lotus Workplace Designer daherkommt. Das neue Entwicklungswerkzeug ist ein RAD Tool für den IBM Workplace, sprich ein Rapid Application Development Werkzeug. Damit arbeitet man in einer J2EE Umgebung mit einem eher dokumentenzentrierten Ansatz und das Ganze erinnert im Look and Feel stark an den Domino Designer – was kein Wunder ist, denn federführend wurde das Projekt von der ehemaligen Chefdesignerin der Domino Entwicklungsumgebung geleitet. Und die verschaffte dem Workplace Designer sogar eine Art Formelsprache.

Das RAD neu erfinden

So erfreulich die Ankündigung des Workplace Designers allerdings ist, umso verwunderlicher ist, dass nicht Rational das RAD Tool für den Workplace liefert. Schaut man zu Rational, so hat man da nämlich auch schon das Rad neu erfunden. Den Rational Application Developer, ebenfalls kurz RAD genannt. Der hat aber nichts mit dem Workplace Rad zu tun. Vielleicht blicken die IBMer da auch nicht mehr durch, oder irgendwer hat dort gehörig ein Rad ab.

Zurück zum Workplace. Ohne jetzt weiter über die verwirrende Namensgebung zu sinnieren, muss man ehrlich zugeben: Es hat einen wirklich vermarktbaren Reifegrad erreicht. Die Workplace Services Express, als Sharepoint-Killer konzeptioniert, bepreist und vermarktet, erweisen sich als in der Praxis wirklich erstaunlich schnell zu installieren und intuitiv zu bedienen. Obendrein kündigte Ambuj Gojal auch noch an, allen Passport Kunden 20 Lizenzen von Workplace Services Express zu schenken – und damit kann man tatsächlich etwas anfangen. Und für Begeisterung sorgte auch der Activity Explorer, eine Lotus Workplace Komponente, die Teamdokumente in strukturierte Zusammenhänge stellen kann, unabhängig vom Dokumenttyp. Viele nette Neuerungen, die in den fünf Tagen artig mit Applaus aufgenommen wurden.

Aber was wäre die Rocky Horror Pictures Show ohne den Auftritt von Frank N. Furter? Eine Lotusphere ohne Ed Brills jährliche Pflichtveranstaltung „The Boss loves Microsoft“ wäre keine Lotusphere. Ed Brill ist der Hohepriester, der uns Halt und Zuversicht im Kampf gegen das Böse aus Redmond gibt. Alle pilgern in seine Veranstaltung, die meisten können die Worte schon mitmurmeln – sie kennen Argumente, Gesten und Charts. Die meisten Teilnehmer wissen, was er sagen wird, aber sie wollen es aus seinem Mund hören und von seinen Slides lesen. Nur das anrüchige Chart – die Grablandschaft der Microsoft Produkte – hat er geschmacklich etwas aufgebessert. Ein animiertes Schachbrettmuster zeigt uns nun deutlich die gescheiterten Versuche des Softwaregiganten, im Collaboration Business mitzuspielen. Und wer jetzt noch glaubt, dass 1468 das Jahr war, an dem Christopher Columbus die Teamarbeit erlernte, der wurde eines Besseren belehrt. 1468 Kunden migrierten von bekannten Konkurrenzsystemen zu Lotus Domino. 6 von 7 Kopf-an-Kopf Rennen gingen nicht an Microsoft, sondern an IBM.

So endete alles in grenzenloser Harmonie. Vergessen der Weg der Now- und der Next-Generation. „Es gibt keine zweispurige Straße in die Zukunft, es gibt nur ein Ziel“, rief Ambuj Gojal der durchgefrorenen Menge im eiskalten Florida entgegen. Nur der Kunde, der will es immer noch nicht so recht glauben. Aber dem werden wir Business Partner schon ordentlich einheizen. Mit einer unglaublichen Welle von Lotusphere Nachlesen wird die nächsten Wochen dieses Land überzogen. Da sollte die Botschaft doch ankommen. Aber bitte lassen Sie den Reis zu Hause.

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