Das böse Netz

Das Netz ist schuld. Das Netz ist schuld, dass sich unsere Kinder nicht mehr konzentrieren können. Das Netz ist schuld an schlechten Noten. Es macht Kinder aus besten Familien zu Amokläufern. Es vernichtet Existenzen. Es ruiniert Karrieren, deren Grundstein doch so sorgfältig mit dem frühkindlichen Chinesisch-Unterricht schon im Kindergarten gelegt wurde.

Ich schreibe nach langer Zeit endlich wieder etwas in dieses böse Netz, dessen Bewohner ich schon lange bin. Denn mir ist im „echten Leben“ – man beachte und spreche auch die Anführungszeichen – eine Laus über die Leber gelaufen.

Es geht um das völlig hoffnungslose Unterfangen des netzaffinen Teils der Bevölkerung, dem netzaversen Teil zu erklären, was da eigentlich hinter dem hauseigenen DSL Router wirklich passiert. Dieses Problem wird zu einer tickenden Zeitbombe, wenn die beiden Bevölkerungsteile sich um die Deutungshoheit der Alltagsphänomene gegenüber den lieben Kleinen streiten.

Die Fronten sind dabei klar: Eltern, die ihren pubertierenden Kindern Zugang zum Internet erlauben, vielleicht sogar zu Online-Spielen und oder gar zu – Gott bewahre – Facebook, werden in gut situierten Wohngegenden fast schlimmer eingestuft als diejenigen Eltern aus Funk, Fernsehen und Trash-TV, die ihre Kinder unbeaufsichtigt 24 Stunden allein zu Hause mit Fertig-Nahrung und Glotze sitzen lassen.

Kaum einer, der auf der netzophoben Seite mit harten Bandagen argumentiert, hat einmal wirklich Berührung mit dem Netz gehabt. Das Wissen wird aus reisserischen Fernsehreportagen („Sybille, 13, lernte ihren Peiniger auf Facebook kennen“), Hörensagen oder kulturpessimistischen Talkshows bezogen, bei denen emeritierte Literatur-Professoren, CSU Politiker und der Bundesdatenschutzbeauftragte auf irgendeinen Exoten aus der Online-Welt (setze hier beliebig ein Sascha Lobo, Vertreter der Spackeria oder ähnliche Aktivisten) losgelassen werden. Mit diesem Halbwissen ausgestattet ziehen dann die Kreuzritter auf Elternabende, veranstalten „Aufklärungsabende“ zu Facebook in der Aula und schüren die Ängste nur noch mehr. Jede dieser Diskussion kann man wunderbar ertragen mit dem Facebook Bullshitbingo – die Argumente und Schlagworte sind immer gleich.

Als Vater zweier pubertierender Jungs, die selbstverständlich auch im Netz unterwegs sein wollen, fühlt man sich jeden Tag mehr schuldig. Ich möchte an dieser Stelle nicht falsch verstanden werden: Es gibt sie, die vernachlässigten Kinder, die nur noch zuhause vor flackernden Bildschirmen hocken und Zombies killen. Es gibt Suchtverhalten bei Online Games, es gibt Abhängigkeiten.

Aber es gibt auch die Kinder, die zuhause nur vor dem Fernseher hocken. Die auch ohne Netz keine Liebe erfahren, die weder Sport machen, noch Freunde treffen noch ein Instrument spielen. Das alles hat nichts mit dem Internet zu tun.

Was mich wütend macht ist die Arroganz und Ignoranz meiner Altersgenossen und Mit-Eltern gegenüber den Veränderungen, die das Internet mit sich bringt. Die wenigsten haben sich die Mühe gemacht, mit den Kindern und Jugendlichen diese Dinge zu erleben. Wenigstens sollte man versuchen, diese Dinge zu verstehen. Man sollte verstehen, was die Kinder auf Facebook treiben. Eltern, die ihre pubertierenden Mädchen oder Jungs begleiten, sind mit ihren Kindern auch auf Facebook bekannt. Sie beobachten dort und nehmen teil. Das erfordert ein gutes Vertrauensverhältnis, auf beiden Seiten. Als meine Kinder nicht mehr in ihrem Lieblings-Brettspiel Catan sondern auf Travian virtuell mit dem Handel von Holz, Getreide, Stein und Lehm begannen, war ich Mitspieler von Anfang an und habe gelernt, dass dort nichts verwerfliches passiert. Im Gegenteil. Erstaunliche Dinge passierten, die Jungs organisierten ihre Allianzen, bauten ihre Dörfer aus und übten Demokratie.

Aktuell entbrennt der Streit um Minecraft, quasi die Fortsetzung von Lego in der virtuellen Welt. Wenn Kinder in Minecraft Ihre Welten bauen, so kann das auch für Erwachsene absolut faszinierend sein. Da hilft es nicht, sich zurückzuwünschen in die gute alte Zeit, in der die lieben Kleinen mit Bauklötzen und Lego diese Welten geschaffen haben. Auch meine Kinder haben stunden-, tage- und wochenlang gigantische Welten aus Lego geschaffen, ich habe das Zeug auf eBay kiloweise ersteigert.

Aber jetzt sind sie Gymnasiasten, haben tiefe Stimmen und wollen die virtuelle Welt erkunden. Und natürlich werden sie in den Strudel gezogen. Auch das müssen sie erfahren. Selbstverständlich kann man nachts davon träumen, die alte verlassene Mine auf Minecraft in eine wunderbare Höhle voller leuchtender Steine zu verwandeln. Sie erleben gemeinsam mit anderen Erfolge, bauen unglaubliche Dinge – und landen, wenn sie sich daneben benehmen, auch mal für eine Weile im Gefängnis. Auch hier wird soziales Verhalten geübt – egal ob echtes oder virtuelles Leben sind die Mechanismen gleich.

Selbstverständlich haben wir Eltern bei all dem die Pflicht, die Racker zu bremsen und daran zu erinnern, dass es noch Hausaufgaben, Sport und das Tischtennisturnier mit den Nachbarjungs gibt.

Aber Verbote – die bringen gar nichts. Ich halte das Ausschließen von Kindern aus dem Netz nicht nur für ungeeignet, sondern für grob fahrlässig. Die Kompetenz, die sich die Kinder im Netz aneignen, benötigen sie später im Alltag, Beruf und ihrer Familie – von wenigen Ausnahmen abgesehen. Und soziale Beziehungen, so tragisch es für die „Echtes Leben“-Vertreter auch klingen mag, werden im Netz ebenso gepflegt, weiterentwickelt und zu neuen Formen finden. Das Internet wird nicht vorübergehen, es ist keine Mode. Es hat unsere Welt schon verändert, und es wird sie weiter verändern. Die Verweigerer werden mit dieser Welt nicht mehr zurechtkommen.

Ich mache mit meinen Kindern die Erfahrung, dass sie die Balance beherrschen lernen müssen und auch streckenweise schon gut beherrschen können. Dass sie sogar selber merken, wie sehr sie in den Sog eines Spiels geraten. Solange sie aber rausgehen, Ball spielen, Skateboard fahren, Trampolin springen und Klingelstreiche machen, ist die Welt noch in Ordnung. Ich kann nicht erkennen, warum ein Abend, an dem die Kinder mit anderen gemeinsam eine kleine Stadt aus virtuellem Lego bauen, mit Wohnhäusern, Hotels, Banken und wahlweise auch Pyramiden oder Leuchttürmen, schlechter für die seelische Gesundheit sein soll als der passive Genuss irgendeines 90 minütigen Action-Thrillers im Abend-TV.

Nachtrag: Als ich mir dies aus gegebenen Anlass heute von der Seele geschrieben habe, bin ich auf diesen wunderbaren Beitrag beim Spreeblick gestoßen. Die Kommentare unbedingt lesen!

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